Guten Morgen, Zukunft

DAS PRIVATE IST POLITISCH / FRAUEN* IN OSTDEUTSCHLAND / ALTE UND NEUE GEMEINSCHAFTSBILDER

Ein Rechercheprojekt von Musa Kohlschmidt, Lea Knippenberg und Julius E. Böhm

Gleich zu Beginn der Inszenierung wird der Boden der Probebühne des Theaterhauses befragt: „Also, wer ist dieser Boden im eigentlichen Sinne, oder was ist da drum herum, also wo kommst du eigentlich her, Boden, also, kuckuck, ist da wer?“ Der Boden antwortet, wie erwartet, nicht.

Musa Kohlschmidt, Lea Knippenberg und Julius E. Böhm haben ihre Arbeit am Theaterhaus mit dem Vorhaben angetreten, den Boden zu erforschen, der unter den Brettern liegt. Ostdeutschland. Was sind die Hinterlassenschaften der Vergangenheit, wie beeinflussen sie die Gegenwart, auf welche Zukunft deuten sie hin? Als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit diesen Fragen wählt das Regieteam das Buch „Guten Morgen, du Schöne“ von Maxie Wander. Die österreichische Schriftstellerin, die zusammen mit ihrem Mann 1958 in die DDR zog, veröffentlichte 1977 ihre „Protokolle nach Tonband“, in denen Frauen unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft über ihre Erfahrungen, Wünsche und Alltagsabläufe im sozialistischen System erzählen. Das Buch wurde schlagartig zum Erfolg - sowohl in der DDR als auch in der BRD.

Fast fünfzig Jahre später setzt das Regieteam neue Protokolle auf. Auch ihre Suche stellt Frauen in den Mittelpunkt. Ihre Perspektive bildet sich im Spannungsfeld zwischen Öffentlichem und Privatem. Zwar ist Deutschland nun vereint, aber was ist von der Teilung in der Sozialisation geblieben? Durch Aufrufe, Bekanntschaften und Netzwerke unterschiedlicher Institutionen findet das Team sechzehn Gesprächspartnerinnen verschiedener Generationen in und um Jena, die anhand von Objekten und Orten ihre Geschichte nachzeichnen. Aus diesem Material entstehen Bühne, Kostüme und Texte dieser Stückentwicklung.

Die Sammlung von Fragestellungen und Lebenswegen verdichtet sich in drei Figuren: Rike, Zaia und Hannah. Verkörpert durch drei Schauspielerinnen des Theaterhauses, betreten sie die Bühne. Sie verwandeln das erst leere Spielfeld und laden die Zuschauenden auf einen Blick in ihren jeweiligen privaten Raum ein. Dort begegnen sie ihren symbolischen Müttern, die mit den Stimmen von Maxie Wanders Protokollen zu ihnen sprechen. Die ‚Töchter‘ treffen aufeinander. Sie vergleichen ihre Erfahrungen, ihre Erinnerungen, ihre Vorurteile, ihre Sorgen. Sie reflektieren über sich selbst und ihr Erbe. Sie trauern um das Vergangene. Sie befreien sich davon.

»Guten Morgen, Zukunft« handelt von dem versteckten Auftrag in allen Hinterlassenschaften, von der spürbaren Sehnsucht, Teil einer Geschichte zu sein, die weitererzählt wird. Die Schauspielerinnen nehmen das Publikum auf eine Reise durch diese Geschichten mit. Auf ihren krummen und gewundenen Wegen findet sich Anekdotisches, Wiedererkennbares, Gewohntes wie auch Neues. Sie werden überprüft auf die Abdrücke der Vergangenheit und befragt nach Spuren von Vorstellungen und Träumen.

Der Boden, der einst Grund „blühender Landschaften“ sein sollte, ist stumm. Der Riss durch die Geschichte, die Erfahrung eines verschwundenen Staates, geht durch die Körper von Frauen, von Familien und Generationen. Auf diesem geteilten Boden, darunter, drum herum, schlummern unsichtbare Geschichten. Ihre Nacherzählung bringt sie erst zum Vorschein, dadurch erwachen die privaten Gegenstände, in denen die Zeit eigeknotet ist, zum Leben. Und in diesem Vorgang ist die Möglichkeit von Veränderung gegeben, eine Sehnsucht nach Zukunft.

Altersempfehlung: ab 15
Uraufführung: 30.01.2025

Eine Produktion aus dem Programm »Open Call 2023/24«.

Das Theaterhaus Jena bedankt sich ausdrücklich bei allen Kuchenbäcker*innen, die für die »Guten Morgen, Zukunft«-Vorstellungen Kuchen gespendet haben oder wollen. Für alle »Guten Morgen, Zukunft«-Vorstellungen bis zum Ende der Spielzeit sind wir bestens versorgt. Sobald wir wieder Kuchenspenden benötigen, melden wir uns.

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GUTEN MORGEN, ZUKUNFT // english

Research Projekt from Musa Kohlschmidt, Lea Knippenberg and Julius E. Böhm

At the very beginning of the performance, the floor of the rehearsal stage at the Theaterhaus is questioned: "So, who is this floor in the truest sense, or what’s around it, where do you actually come from, floor, well, cuckoo, is anyone there?" The floor, as expected, does not respond.

Musa Kohlschmidt, Lea Knippenberg, and Julius E. Böhm began their work at the Theaterhaus with the intention of researching the floor beneath the boards. East Germany. What are the remnants of the past, how do they influence the present, and what future do they point to? As a starting point for exploring these questions, the directing team chooses the book Guten Morgen, du Schöne by Maxie Wander. The Austrian author, who moved to the GDR with her husband in 1958, published Protokolle nach Tonband in 1977, in which women of different ages and social backgrounds share their experiences, desires, and daily routines in the socialist system. The book became an instant success – both in the GDR and in the FRG.

Nearly fifty years later, the directing team sets out to create new protocols. Their search also places women at the center. Their perspective forms within the tension between the public and the private. While Germany is now reunified, what remains from the division in their socialization? Through calls, acquaintances, and networks from various institutions, the team finds sixteen female dialogue partners of different generations in and around Jena, who trace their stories through objects and places. From this material, the stage, costumes, and texts for this play are developed.

The collection of questions and life paths condenses into three characters: Rike, Zaia, and Hannah. Portrayed by three actresses from the Theaterhaus, they step onto the stage. They transform the initially empty playing field and invite the audience into their respective private spaces. There, they encounter their symbolic mothers, who speak to them in the voices of Maxie Wander's protocols. The ‘daughters’ meet one another. They compare their experiences, memories, prejudices, and concerns. They reflect on themselves and their heritage. They mourn the past. They free themselves from it.

»Guten Morgen, Zukunft« is about the hidden task in all legacies, about the palpable longing to be part of a story that continues to be told. The actresses take the audience on a journey through these stories. On their crooked and winding paths, there are anecdotes, familiar things, the recognizable, as well as the new. They are tested on the marks of the past and questioned about traces of ideas and dreams.

The floor, which was once supposed to be the foundation of "blooming landscapes," remains silent. The rift through history, the experience of a vanished state, runs through the bodies of women, families, and generations. On this shared ground, beneath it, around it, invisible stories lie dormant. Their retelling brings them to the surface; in this process, the private objects, in which time is knotted, come to life. And in this process, the possibility of change is given, a longing for the future.

Age recommendation: 15+
World premiere: 30.01.2025

A production from the »Open Call 2023/24« program.

Besetzung // Cast

Es spielen: Mona Louisa-Melinka Hempel, Thato Kämmerer, Luana Velis
Konzept + Text + Regie: Musa Kohlschmidt
Konzept + Bühne: Julius E. Böhm
Kostüm: Lea Knippenberg
Dramaturgie: Daniele Szeredy
Regieassistenz: Jonas Krüger
Ausstattungsassistenz: Nio Läuter
Maske: Heike Lindemann

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Playing: Mona Louisa-Melinka Hempel, Thato Kämmerer, Luana Velis
Concept + Text + Direction: Musa Kohlschmidt
Concept + Stage design: Julius E. Böhm
Costumes: Lea Knippenberg
Dramaturgy: Daniele Szeredy
Assistant Director: Jonas Krüger
Equipment Assistance: Nio Läuter
Make-up: Heike Lindemann

Presse

»Theaterhaus Jena zeigt Frauengeschichten, inspiriert von Maxie Wander«
Filmbeigtrag bei artour/ MDR vom 30.01.2025

»... „Guten Morgen, Zukunft“ handelt vom ganz normalen Alltag, vom kollektiven Erbe, von vielen Parallelen auch nach 50 Jahren, von dem Wunsch, Teil einer Geschichte zu sein, sie weiterzuerzählen und zugleich der Sehnsucht nach Veränderung und Zukunft. Mal philosophisch, ganz oft sehr heiter und dennoch tiefgründig erzählen die Drei aus ihren Leben und von ihren Träumen. Eine sehenswerte und kurzweilige Inszenierung mit einem heiteren Blick auf die Ost-Vergangenheit, die sie am Ende loslassen.«
(Ulrike Kern, OTZ digital, 31.01.2025)

»... Es sind viele Fragen, die in diesem Stück gestellt werden. Es geht um weibliche Perspektiven früher und heute, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede: "Bei den Forderungen zur Gleichberechtigung erschrickt man fast, so ähnlich hören sie sich über die Jahre an", konstatiert Musa Kohlschmidt. Für Julius Böhm zieht sich die innere Zerrissenheit durch – das Gefühl, angesichts von Arbeit und Familie niemandem richtig gerecht zu werden.
Bei anderen Themen dagegen konnten die beiden große Unterschiede in den Ansichten früher und heute ausmachen. Etwa beim Blick in die Zukunft. Während die Frauen zu DDR-Zeiten die Zukunft noch für sich beanspruchten und positiv nach vorn schauten, sah das bei den Interviewpartnerinnen der Gegenwart ganz anders aus, erzählt Kohlschmidt: "Sie waren oft sehr zurückhaltend, was ihre Zukunft angeht. Da kamen so Antworten wie: 'Was soll ich denn da sagen, es ist so eine schreckliche Welt'. ...«
(Gespräch Mareike Wiemann mit Musa Hohlschmidt, Lea Knippenberg und Julius E. Böhm im MDR Kulturradio)

»... Im vergangenen Sommer reist die Regisseurin durchs Land, unterhält sich mit Frauen zwischen 15 und 81 Jahren, um eine möglichst große Altersspanne abzudecken.„Wir möchten erreichen, dass Frauen ihr Leben als wichtig ansehen...."
All die Gesprächsprotokolle kommen, wie bei Maxi Wander, nicht eins zu eins auf die Bühne. Vielmehr haben die Produzenten die Inhalte komprimiert, anonymisiert und in drei Figuren verpackt. Das sind „die Töchter“ auf der Theaterhaus-Bühne, die sich über Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ihr Erbe unterhalten. Ihnen gegenüber stehen „die Mütter“ aus Maxi Wanders Roman.
Und so groß sind die Unterschiede in den Themen, die die beiden Generationen bewegen, gar nicht, erzählen Kohlschmidt und Böhm. Den Frauen in Thüringen gehe es oft um das Gefühl der Vereinzelung und dem Wunsch nach Gemeinschaft und Kontakt. Auch das Ringen um die eigene Rolle sei ein wichtiges Thema – damals wie heute ...«
(Gespräch Ulkrike Kern/ OTZ mit Musa Kohlschmidt und Julius E. Böhm, OTZ digital, 23.01.2025)